Der dritte Dortmunder ist gestorben,
als er beim Discokugel putzen von der Leiter gefallen ist, erzählt mir Karl-Henning Dortmund, den hier alle nur Kümi nennen, um zwei Uhr Nachts am Bierstand. Wir, mein Frankfurter Kumpel Oliver begleitet mich heute, befinden uns auf der 100-Jahrfeier des MTV Bodenburg. Jetzt aber mal chronologisch, damit ich die schönen Momente und Skurilitäten dieses ganz speziellen Wandertages nicht durcheinander bringe.
Der Tag begann regnerisch. Im Frühstücksraum unserer Herberge, stießen wir auf eine Gruppe von 16 Mönchen. Beim genaueren Betrachten, entpuppten sich die Herren als eine kostümierte Fussballmannschaft, die als Leffe-Mönche jährlich aus der belgischen Partnerstadt Rotselaar in Flämisch-Brabant zu Besuch kommen. Seit 1987 gibt es diese Städtepartnerschaft schon und an diesem Wochenende war großes Stadtfest in Bad Gandersheim. Und das bitte ich wörtlich zu nehmen. Die Sperrstunde war aufgehoben und selbst um 02:00 Uhr Nachts gab es vier Bühnen mit lauter Livemusik und Tausende von Menschen die tanzen, trinken und reden, füllten die Gassen.
Wir liefen los in Richtung des Tageszieles Bad Salzdetfurth. Nach 5 Kilometern höre ich Musik. Es klingt wie eine Orchesterprobe. Kurz danach sehe ich den Grund. Wir kommen an einem 70er Jahre Jugendherbergen ähnlichem Bau vorbei, mit der großen Aufschrift Bundes-Musikschule. Das könnte mein erstes Motiv werden, zumal es immer noch regnet und ich vielleicht innen fotografieren darf. Ich treffe auf Sebastian Dortmund, den Dirigenten des (KJO) Kreisjugendorchesters-Hildesheim. Das Orchester, bestehend aus 12-25 jährigen Jugendlichen von unterschiedlichen Orchestern und Musikvereinen im Raum Hildesheim, probt ein ganzes Wochenende für das gemeinsame Jahreskonzert im November. Ich könnte einen Moment warten, dann gäbe es die Möglichkeit für ein Gruppenbild vor der Mittagspause. Das Angebot nehme ich gerne an und freue mich über den Nachnamen von Sebastian. Der klingt irgendwie nach Heimat. Sebastian erklärt mir, dass es hier in der Gegend einige Dortmunder Familienzweige gibt und der Name gar nicht so exotisch ist für Südniedersachsen.
Gegen frühen Abend führt mich meine WanderApp durch Bodenburg, einem ehemaligen Flecken und heute südlichen Stadtteil von Bad Salzdetfurth. Wieder höre ich Musik und sehe eine gesperrte Strasse. Dieser folge ich und komme ins Epizentrum der 100-Jahrfeier des MTV-Bodenburg ( Männerturnverein von 1919). Wir beschließen eine kurze Trinkpause am Bierwagen einzulegen. Da ich kurz vorher im Wald, erstmalig auf dieser Tour, in einem durch Wildschweine aufgepflügten Wegstück ausgerutscht bin, möchte ich mir ganz gerne die Hände waschen. Ein freundlicher Mann mit 100-Jahre Motto T-Shirt zeigt mir eine versteckte Waschmöglichkeit in der Turnhalle. Ich bin beeindruckt über die aufwendige Dekoration der Halle und überlege, ob ich nicht hier mein zweites Motiv für heute realisiere. Ich gehe auf den hilfsbereiten Herren zu und erkläre mein Anliegen. Jetzt passiert innerhalb von Minuten eine Kaskade der Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit, wie ich es bisher selten erlebt habe. Natürlich, man fühle sich geehrt bei meinem Projekt dabei zu sein. Gleichzeitig werden wir eingeladen zu bleiben und an der Feier die ab 19.00 beginnen werde teilzunehmen. Und überhaupt unser Glas sei schon wieder leer und sofort hat wieder ein Vereinsmitglied für uns ein Getränk organisiert. Als wir erklärten, dass wir schon ein Hotel reserviert hätten wurde innerhalb von 10 Minuten eine Ferienwohnung organisiert, in der wir heute Nacht übernachten könnten. Mir war klar, hier möchte ich heute bleiben. Es tut gut, das Gefühl gewollt zu sein. Irgendwie ein Stück Zuhause.
Während ich mich dem halben Verein vorstelle, erfahre ich, dass der freundliche Mann Karl-Henning Dortmund heißt. Angela, seine Ehefrau, ist Kassenwart im MTV und er ist einer von der kleineren Gruppe Männer die auch Mitglied im MTV sind. Christine Ehring, die erste Vorsitzende die alle nur Tine nennen, sagt ironisch: „Eigentlich müßte man inzwischen Mädchenturnverein sagen“. Trotzdem hat der Verein über 500 Mitglieder und ist mit Abstand der größte in Bodenburg und Umgebung. Auch das ist unstrittig sichtbar. Ich lerne so viele neue Menschen und historische Anekdoten kennen, dass ich zwischenzeitlich das Gefühl habe schon ewig hier zu leben.
Irgendwann habe ich dann die Chance mit Kümmi über seinen Dortmunder Familienclan zu sprechen. Von Sebastian, meinem Vormittags Dortmunder dem Dirigenten, hatte er schon gehört, aber der ist nicht mit ihm verwandt. Er erklärt, dass es hier in der Nähe drei Familienzweige gibt. Sein Vater war der Böttcher, der Fassmacher. Der zweite Zweig waren die Brenner, Schnaps und ähnliches und dann der tragische dritte Zweig. Das waren die Gastronomen. Aber das wäre ja jetzt Geschichte, nachdem der letzte beim Discokugel putzen von der Leiter gefallen wäre. Zum Schluss frage ich noch, wie das Orga-Team es denn geschafft hatte die hohe Turnhallendecke zu dekorieren. Es sagt: „Ach das war ganz einfach, die haben lange Leitern benutzt.“
Bodenburg in Südniedersachsen, du schöner Flecken im nördlichen Harzvorland, ich werde dich für immer im Herzen tragen. Danke für diesen unvergesslichen Abend! 22km
Wort des Tages: Flecken =Bezeichnung für eine kleinere, aber lokal bedeutende Ansiedlung. Eine Minderstadt mit Marktrecht.
Andreas, ich liebe Deine Arbeit. Sie ist so ehrlich!